Niemand weiß wirklich, was die Weltwirtschaftskrise uns noch an Veränderungen zumuten wird: in Deutschland ist das reale Befinden zwar noch komfortabel und – z.B. dank der breit genutzten Kurzarbeiterregelung – nicht wirklich katastrophal. Doch vermuten viele, dass das nicht so bleiben wird und im Web kann man jede Menge Untergangspropheten lesen, die allerschwärzeste Entwicklungen an die Wand malen: Soziale Unruhen, Aufstände, allgemeines Chaos, Versorgungsengpässe, Hyperinflation mit folgender Währungsreform und allerlei Schrecklichkeiten mehr.
Oft habe ich den Eindruck, dass diejenigen, die die Dinge am allerschwärzesten sehen, geradezu Freude daran haben, solche Worst-Case-Szenarien an die Wand zu malen. Ihre Handlungsempfehlungen, sofern überhaupt vorhanden, gehen regelmäßig in die Richtung, sich mittels Bevorratung (manchmal sogar Bewaffnung!) für den absurden Kampf aller gegen alle zu rüsten – anstatt darüber nachzudenken, welche Möglichkeiten es gibt, durch gemeinsame Anstrengungen und solidarisches Handeln die Krise zu meistern: Yes, we can – dieser Geist ist leider hierzulande kaum anzutreffen!
Abgehoben ins Virtuelle
Während in den Mainstreammedien die Krise immerhin einen prominenten Platz in der Berichterstattung einnimmt, kreist die Blogosphäre nach wie vor um sich selbst, beklagt mangelndes Internet-Verständnis der Gesellschaft und kümmert sich – wenns doch mal konkret politisch wird – um Themen wie die unsäglichen Netzsperren gegen Kinderporno, das Urheberrecht und die Datenspeicherung. Ja, das ist unbenommen richtig wichtig, doch treffen diese Themen nicht den Nerv der Mehrheit der Bevölkerung: es sind die Anliegen derjenigen, die seit Jahren das Internet nutzen, um in einem schier unendlich scheinenden virtuellen Raum ein Leben zu führen, für das Otto Normalverbraucher noch immer wenig Verständnis hat.
SPREEBLICK schreibt dazu recht treffend:
„Das ist alles ohne Ironie schön und gut. Denn das Netz ist unser virtueller Ort, der Ort, den wir in den Debatten um Schäuble2.0 und Zensursula verteidigen wollen, weil wir hier gern sind. Wo, wenn nicht hier, sollen wir anfangen mit politischem Handeln? Was, wenn nicht das Netz als Rechtsraum könnte unser gemeinsames Thema sein?
Allein, und das ist die andere Seite, das interessiert keinen außer uns selbst.“
In der Krise wird alles FERNE teuer, knapp und vielleicht unerreichbar
Das Internet hat den physischen Nahraum für seine User zunehmend unwichtiger gemacht: Fernbeziehungen lösten Nahbeziehungen ab, man kauft im Webshop und nicht mehr im Laden um die Ecke. Es wird so viel herum gereist wie nie, denn die Freunde sind über die halbe Welt verteilt. Die lokalen Zeitungen verloren ihre Kleinanzeigen an überregionale Plattformen, die eine viel größere Auswahl bieten. Und wer noch ein Angestellten-Dasein führen will, muss oft genug mobil und flexibel sein: also der Arbeit hinterher ziehen, was dem Aufbau stabiler sozialer Beziehungen drastisch entgegen steht.
Ein solcher, vom konkreten Ort unabhängiger Lebensstil ist nicht gerade nachhaltig und könnte bei einer Zuspitzung der Krise zu weitgehender Isolation der vielen nur noch im Virtuellen verwurzelten Individuen hinter ihren Monitoren führen. Und wenn erst einmal der Warenstrom, der alles just in time und on demand ans Ziel bringt, spürbar stottert oder gar stockt, wird es richtig brenzlig!
Zurück auf den Boden der Tatsachen: die lokale Community
Bisherige Experimente mit dem lokalen Web kranken an der weitgehenden Interesselosigkeit der Netizens: mehr als ein paar Ausgeh-Locations, Kultur-Events, Restaurant- und Hotel-Adressen, um Besuch aus der Ferne unterzubringen, braucht ja kaum mehr jemand. Und ja, einen Partner hätte man schon auch gern in der Nähe, deshalb werben Projekte wie Townking.de auch mit der „100% Flirt-Garantie“.
Als ich kürzlich las, dass Robert Basic mit seinem neuen Projekt Buzzriders.com den LOKALEN RAUM erschließen will, dachte ich: ENDLICH macht einer mal Ernst mit dem Web 2.o in den „Dörfern“, in denen wir letztlich alle leben. Er beschreibt sein Vorhaben so:
Was ist Buzzriders?
Viele fragen, was denn nun Buzzriders werden soll. Konkret. Darauf gibt es eigentlich zwei Antworten: Grundsätzlich handelt es sich um das Bestreben, dem lokalen Leben und Erleben ein digitales Gegenüber anzubieten. Menschen ticken eben lokal. Sie kaufen lokal ein. Gehen lokal aus. Machen lokal Sport. Unterhalten sich auf lokaler Ebene. Kinder, Erwachsene, Mütter, Väter, Großeltern, Freunde, Verwandte, Bekannte, Nachbarn. Das, was wir bisher an Techniken und Gesamtlösungen im Netz anbieten, reicht mir nicht aus, um das Gefüge online genügend gut abzubilden und zu erweitern. Für mich gibt es keinen Zweifel mehr, dass der Mensch zunehmend das digitale Element nutzt, um sein Leben zu gestalten. Und er wird mit steigender Intensität das Netz für seinen lokalen Alltag nutzen. Einen Teil decken die Social Networks ab, einen Teil Mails und Chats, Foren und Blogs, usw. Doch den gesamtheitlichen Trend kann man aufgreifen und etwas anbieten.
Hört sich gut an! Allerdings: Das LOKALE LEBEN ist so ziemlich das Gegenteil von „Buzz“, nämlich im Normalfall ganz und gar nichts AUFREGENDES! Ihm fallen dazu denn auch erstmal nur Themen wie Ausgehen, Einkaufen (echt?), Sport, Unterhaltung und Kontakte zu Verwandten, Freunden und Nachbarn ein – nichts, was irgend jemanden vom Hocker reißt – und nichts, wofür man bisher eine virtuelle Vernetzung gebraucht hätte.
Kein Buzz nirgends – oder doch?
Lokale Themen interessieren meist nur wenige „Betroffene“ und das auch nur sporadisch, nämlich dann, wenns irgendwie brennt und wirklich nervt: groß angelegte Sanierungen alter Stadtteile, Neubauvorhaben, Verkehrsführung und Beruhigung, Begrünung/öffentliche Parks, Versorgung mit sozialen Einrichtungen, gelegentlich Kampf um kulturelle Freiräume, dazu Fragen zur „Sondernutzung öffentlichen Straßenlands“ (=dürfen Kneipiers Stühle & Tische raus stellen?). Das örtliche Kleingewerbe verteilt Zettel in Briefkästen oder lebt von der spärlichen Laufkundschaft, bzw. vom Handel in die Ferne (Ebay etc.) – und seinen Arzt findet man per mündlicher Empfehlung, in den gelben Seiten oder einer überregionalen Arzt-Suche.
Eigentlich spannende Initiativen, wie etwa die Tauschringe, dümpeln angesichts der Potenziale, die ihnen das Netz eröffnet, geradezu verstörend „in sich gekehrt“ vor sich hin. Wenn ich mir die Seiten eines seit vielen Jahren bestehenden Tauschrings in Berlin Kreuzberg anschaue, kann ich mich nur wundern, wie „netzfern“ das Ganze noch immer wirkt: das zentrale Tausch-Blättchen darf man sich ausschließlich als Mitglied in einem Passwort-geschützten Bereich herunter laden. Warum denn so abweisend und geheimniskrämerisch?
Die Krise als Chance
Anstatt lokale Web 2.0-Projekte hauptsächlich als interessante StartUps rund um Unterhaltung und Konsum anzudenken, schlage ich vor, sie mal ernsthaft durch die Krisen-Brille anzuschauen: Was werden Menschen brauchen, wenn die Lage ernster wird? Wenn DER STAAT nicht mehr alles löten kann, weil er schlicht kein Geld mehr hat? Wenn auch der Einzelne immer weniger Geld hat und die Bewegungsmöglichkeiten sich entsprechend verengen?
Das wird die große Stunde lokaler Neben-Ökonomie und wieder erwachenden Interesses am konkreten Umfeld sein: Tauschen, Handel mittels Verrechnungseinheiten, selbst organisiertes, nicht kommerzielles kulturelles Leben, gegenseitige Hilfe und Gruppenbildung zu verschiedensten Zwecken – nicht aus eher luxuriösem, gutwilligem Bürger-Engagement heraus, sondern aus schlichter Notwendigkeit.
Wer großformatig virtuelle Strukturen für die lokale Vernetzung entwickelt, sollte sie SO anlegen, dass derlei vielleicht demnächst lebenswichtige Nutzungen möglich werden. Das auch gleich so zu kommunizieren, ergäbe zudem ein „Alleinstellungsmerkmal“, das ein neues Mega-Projekt von den meist in Konkurrenz zueinander vor sich hindümpelnden Kiez-Portalen unterscheidet.
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6 Kommentare zu „Die Krise: eine Chance fürs lokale Web?“.