Mit Verlaub: die immer öfter vorgetragene Meinung, dass „Offenheit und Ehrlichkeit“ so etwas Altertümliches wie PRIVATSPHÄRE überflüssig mache, ist mutwilliges Flachdenkertum, dessen Naivität kaum zu überbieten ist. Erst recht empfinde ich den damit einher gehenden moralischen Zeigefinger als eine grobe Zumutung! Wenn sich das Bewusstsein vieler SocialMedia-Begeisterter so weiter entwickelt, werden bald alle, die noch einen Anspruch auf Privatleben vortragen, als unehrliche Feiglinge gemobbt, die vermutlich finsteren Machenschaften nachgehen und sich nicht trauen, zu dem zu stehen, was sie tun.
Von da aus ist’s dann nur noch ein kleiner Schritt bis zur Pflicht zur 100%igen Transparenz. Und gewiss werden das die Innenministerien der Zukunft SEHR gerne in Gesetze gießen. (Die „schöne neue Welt“ von Huxley, wo wenn ich mich recht erinnere auch Vorhänge nicht mehr erlaubt waren, ist dann perfekt).
Wofür Privatheit gut ist
Weil aber diejenigen, die so locker daher reden und auf die „Illusion Privatheit“ gerne verzichten, offenbar wirklich nicht mehr WISSEN, um was es geht: Im Privaten habe ich die Freiheit, mich zu bewegen, zu reden und zu handeln, ohne fortwährend einem „möglichen Publikum“ die jeweiligen Kontexte, Gründe, Bezüge und Rechtfertigungen dieses Tuns oder Lassens vermitteln zu müssen. Gibt es keine Privatheit mehr, ist es mit dieser Freiheit vorbei. Dann werden die Menschen öde, gleichförmig attraktive Masken tragen und stromlinienförmige, nichtssagende Statements abgeben, aus denen niemand etwas Falsches ableiten kann.
Dieser Trend wird bei der Gestaltung von Profilen in sozialen Netzwerken ja heute schon deutlich: bloß keine Ecken und Kanten zeigen, es könnte ja jemand falsche Schlüsse ziehen, ein potenzieller Chef, Kunde, Auftraggeber oder gar „möglicher Partner“ könnte abgeschreckt werden. Style deine ON-ID, sonst bist zu verratzt – dieses Mantra verbreiten immer mehr Warner und jede Menge Agenturen, die sich dann auch gerne um die „Bereinigung“ von allem, was nicht passt, kümmern.
Wahrheit gibt es nur im Kontext
Ohne Privatheit verstärkt sich das alles noch und durchzieht dann als verinnerlichte Haltung den gesamten Lebensalltag. Und dabei geht es in der Regel NICHT um Dinge, zu denen man gerne steht oder stehen können sollte, sondern um irgendwelche Info-Bits, die im Zuge des allgegenwärten gescannt/gefilmt/abgehört/mitgelesen-werdens aus dem Zusammenhang gerissenen werden und falsch bewertet. Ohne dass man es auch nur mitbekommt und etwas Erläuterndes dazu sagen könnte.
Natürlich gab’s das auch in der Vergangenheit, die neuerdings den Namen „Offline-Zeit“ trägt – allerdings nur als Unfall und Ausnahme, nicht als stets zu berücksichtigender Dauerzustand. Denn man hatte ja noch PRIVATHEIT: ein für sich sein bzw. mit bestimmten Anderen sein – unter Ausschluss einer Öffentlichkeit, die von dem, was man gerade mit bestimmten Menschen teilt, keine Ahnung hat und auch nicht haben muss. Privatheit ist die Freiheit, zu leben ohne mich dauernd erläutern zu müssen, ja, ohne auch nur daran DENKEN zu müssen, wie mein lockerer Spruch an den Freund, der mich 10 Jahre kennt und genau weiß, wie ich es meine, auf andere wirken könnte.
Wer sich natürlich nur wirklich lebendig fühlt, wenn hunderte oder tausende „Freunde“ mitbekommen „what’s happening“, der wird schon gar nicht mehr begreifen können, von was ich spreche. Für den bin ich eben der „Altmensch“, der gerade dabei ist, von der Evolution ausgemerzt zu werden.
Mag sein, dass es so ist. Aber ehrlich: ich bin nicht neidisch auf Eure schöne neue mega-transparente Welt!
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Dieser Beitrag ist inspiriert vom Kommentargespräch unter dem Artikel „Facebook mit neuem Location-Feature: Angriff auf den Wettbewerb – und den Datenschutz“ auf Basic Thinking.
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12 Kommentare zu „Wozu noch Privatheit? Ein Wutanfall.“.